In feuchten und schattigen Laubwäldern der Mittelgebirge blüht nun die Haselwurz wieder, ein ganz und gar ungewöhnliches Gewächs. Ich fand sie neulich in der Umgebung Jenas. Meist sieht man nur die glänzenden und nierenförmigen Blätter am Boden, denn die Pflanze bildet keine aufrechten Stängel.

Abb. 1: Die Haselwurz (Asarum europaeum) wächst in schattigen Laubwäldern. Meist sieht man nur die Blätter der Pflanze. Foto: E. Weber
Zwischen den Blättern liegen vertrocknete Buchen- und Ahornblätter, das Laub des letzten Herbstes, das den Waldboden noch zudeckt. Ich entferne vorsichtig das Laub, um die Blüten der Haselwurz zu sehen. Durch ihre rostbraune Färbung fallen sie kaum auf, sie liegen dem Boden auf, gut versteckt zwischen den Blättern und von außen nicht wahrnehmbar.
Merkwürdig, dass die Blüten am Boden angelegt werden. Wer besucht und bestäubt sie? Bienen oder Schmetterlinge interessieren sich sicher nicht für die Haselwurz. Die meisten Blütenpflanzen locken mit Farbe, Duft und Nektar Bestäuber an, ihre Blüten fallen auf und sind schon von weitem erkennbar. Das Wechselspiel zwischen Bestäuber und Blüten gehört zu den faszinierendsten Phänomenen in der Natur. Es sind die gegenseitigen Anpassungen, die zur Vielfalt der Blütengestalten einerseits und der Bestäuber andererseits geführt haben. Denn nicht jede Blüte ist für jeden Bestäuber geschaffen, da gibt es Spezialisierungen auf beiden Seiten. Etliche Wildbienenarten zum Beispiel suchen nur ganz bestimmte Pflanzenarten auf, um Pollen zu sammeln. Blüten mit einem langen und engen Schlund wiederum können nur von Insekten mit einem entsprechend langen Saugrüssel bedient werden, wie sie ihn Schmetterlinge mit sich führen.
Und welche geheimnisvollen Wesen besuchen die Blüten der Haselwurz? Auch sie ist spezialisiert. Ihre Blüten richten sich an eine ganz bestimmte Klientel, nämlich Pilzmücken. Das sind kleine Mücken, von denen es in Europa etwa tausend verschiedene Arten gibt. Sie bevorzugen feuchte, kühle und schattige Orte wie Wälder oder Bachläufe. Ihre Larven ernähren sich von Pilzgewebe, daher legen die Weibchen ihre Eier direkt auf Pilzen oder auf dem Boden ab.
Die Blüten der Haselwurz duften verführerisch nach Pilz. Das lockt Pilzmücken an, die in den Blüten herumkrabbeln und den vermeintlichen Pilz untersuchen, dabei kommen sie mit Blütenstaub in Berührung. Wechseln sie zwischen den Blüten, übertragen sie den Pollen und führen so sie die Bestäubung durch.

Abb. 2: Die kleinen Blüten der Haselwurz verstecken sich im Laub auf dem Boden und duften nach Pilzen. Daher suchen Pilzmücken die Blüten auf und wirken als Bestäuber. Auffallend ist die starke Behaarung der Blüten- und Blattstiele sowie der Blüten selbst. Foto: E. Weber
Es ist ein fieser Betrug, den die Pflanze hier an den Tag legt. Sie bietet ihren Bestäubern nämlich nichts an, weder Nektar noch sonst irgendeine Verköstigung. Sie gaukelt durch ihren Duft einen Pilz vor, der nicht existiert. Es kann sogar vorkommen, dass ein Pilzmückenweibchen Eier in einer Blüte der Haselwurz ablegt, die Larven finden dann aber nichts zum Fressen vor und gehen ein.
Die Blüten der Haselwurz gelten als sogenannte Fliegentäuschblumen. Die Pflanze gesellt sich zu einer Handvoll an Arten, die mit ihren Blüten Pilze nachahmen. Ein bekanntes und in botanischen Gärten gerne kultiviertes Beispiel ist die Baum-Osterluzei.

Abb. 3: Die tropische Baum-Osterluzei (Aristolochia arborea) ahmt mit ihren Blüten ebenfalls einen Pilz nach, der sogar plastisch dargestellt wird. Mit etwas Phantasie lässt sich in der Haube ein kleiner Hutpilz mit weißem Stängel erkennen. Die Pflanze wächst im Regenwald Mittelamerikas. Foto: E. Weber
Der Strauch wächst im Regenwald Mittelamerikas, ist äußerst selten und möglicherweise in der Natur bereits ausgestorben. Auch die Haselwurz gehört zu den Osterluzeigewächsen, ist also mit der Baum-Osterluzei verwandt. Ausgefallene Blüten sind ein Markenzeichen dieser Pflanzenfamilie.
Die Haselwurz zeigt sich als vollkommen unspektakuläres Gewächs im Wald. Man sieht ihr nicht an, welch geheimnisvolle Vorgänge sich an ihren Blüten abspielen. Für mich ist die Haselwurz genauso aufregend wie eine seltene Orchidee oder ein bunter Schmetterling. Wir haben viele spannende Arten an Pflanzen, Pilzen und Tieren, die wir kaum kennen, nicht weiter beachten oder gar als nutzlos betrachten. Jede Art verdient aber unsere Beachtung und hat eine einzigartige Naturgeschichte zu erzählen. Und jede Art spielt eine Rolle im gesamten Ökosystem, auch die so unscheinbare Haselwurz.
Weitere Geschichten über Pflanzen finden sich in den Büchern von Ewald Weber:
Die Pflanze, die gern Purzelbäume schlägt … und andere Geschichten von Seidelbast, Walnuss & Co. oekom Verlag, 2018
https://www.oekom.de/buch/die-pflanze-die-gern-purzelbaeume-schlaegt-9783960060284
Wo die wilden Pflanzen wohnen. Geschichten über Kratzdistel, Besenginster & Co. oekom Verlag 2022
https://www.oekom.de/buch/wo-die-wilden-pflanzen-wohnen-9783962383435
Weitere Infos auf der Autorenhomepage von Ewald Weber: