Und leise schwindet die Natur

Eine hochbetagte Bekannte schilderte mir bei unserem letzten Telefongespräch eine interessante Beobachtung: Der Vogelbeerbaum im Garten vor ihrer Wohnung sei immer noch voller Früchte. Das ist bemerkenswert, weil wir im letzten November telefoniert hatten. Um diese Jahreszeit sollten die roten Beeren längst abgeerntet worden sein, denn sie sind bei Amseln und anderen Singvögeln heiß begehrt. Die Vögel aber werden immer weniger. Der NABU hatte im Januar 2025 wieder zur „Stunde der Wintervögel“ aufgerufen, an der über 120.000 Menschen eine Stunde lang die Vögel notierten, die sich im Garten, auf dem Balkon oder am Futterhaus aufhielten. Die Auswertung zeigte ein ernüchterndes Bild: Amseln seien gegenüber dem Vorjahr um 18 Prozent zurückgegangen; auch Haussperlinge und Feldsperlinge ließen sich seltener beobachten.

Natürlich gibt es Schwankungen von Jahr zu Jahr, doch die Bestände zahlreicher Vogelarten sind während den letzten paar Jahrzehnten massiv eingebrochen. So war der Kiebitz früher viel häufiger als heute, er steht auf der Roten Liste und gilt als stark gefährdet.

Nicht nur Vögel schwinden. Wenn ich an meine Jugendzeit zurückdenke, kommen mir Bilder, die es heute nicht mehr gibt: Wiesen im Elsass voller Orchideen oder gelber Schlüsselblumen, die wir bei einem Familienausflug aufgesucht hatten. Insekten gab es zuhauf, und selbstverständlich erinnere ich mich auch an das intensive Vogelkonzert, das frühmorgens in mein Zimmer drang.

Magerwiesen werden nicht gedüngt und sind Lebensraum für zahlreiche Pflanzen- und Tierarten. Einst waren sie weit verbreitet, doch verschwanden die meisten im Zuge der landwirtschaftlichen Intensivierung. Heute stehen Magerwiesen auf der Roten Liste bedrohter Lebensräume. Foto: E. Weber

Die Natur hat sich in den letzten paar Jahrzehnten dramatisch verändert, und dies weltweit. Sie ist ärmer geworden, ärmer an Arten und ärmer an Lebensräumen. Und die Verarmung schreitet unaufhaltsam weiter voran. Nur können wir viele dieser Veränderungen nicht direkt wahrnehmen.

Was verschwunden ist, sehen wir nicht mehr, und was wir nicht sehen, können wir nicht vermissen. Ein gerodeter Wald ist rasch in Vergessenheit geraten. Unsere Kinder erleben eine Natur, die gegenüber früher bereits stark verarmt und degradiert ist. Von woher sollen sie auch wissen, wie es früher ausgesehen hat, wie bunt viele Wiesen einst waren und welch emsiges Insektentreiben herrschte?

Fachleute sehen eine Gefahr darin, dass der heutige Zustand als Normalzustand aufgefasst wird und sich künftige Änderungen daran messen. Sie sprechen vom „shifting baseline syndrom“ oder „Syndrom der verschobenen Ausgangssituation“. Gemeint ist, dass sich über die letzten Jahrzehnte die als Normalzustand wahrgenommene Natur verändert hat – sich verschoben hat in Richtung einer mehr und mehr degradierten Natur.

Das hat Folgen. Nach Angaben von Wissenschaftlern kann dies zu einer erhöhten Toleranz gegenüber fortschreitender Umweltverschlechterung führen, was sich wiederum negativ auf die Akzeptanz umfangreicher Naturschutzmaßnahmen auswirken kann. So sind Wiedervernässungen ehemaliger Hochmoorflächen oder Flussrenaturierungen zunächst mit starken Eingriffen verbunden. Das stößt mitunter auf Unverständnis und Ablehnung.

Was ist gegen die verzerrte Wahrnehmung des Zustandes unserer Natur zu tun?

Das Wichtigste scheint mir, auf unsere älteren Menschen zu hören, ihnen zu lauschen, wenn sie von früher erzählen. Sie zeichnen ein Bild der Landschaften und der Natur, das in starkem Kontrast zum heutigen Bild steht. Gefragt sind auch Museen und andere Institutionen, die mittels Ausstellungen und Bildungsarbeit die zeitlichen Veränderungen aufzeigen. Nur so kann eine Sensibilität für die massive Naturzerstörung erreicht werden.

Gefördert werden muss auch das Vertraut-Sein mit der Natur; das Kennenlernen der natürlichen Umgebungen mit ihren Pflanzen und Tieren ist unerlässlich. Nur so können junge Menschen künftige Veränderungen auch wahrnehmen. Die Natur- und Artenkenntnis sind schließlich genauso erodiert wie die Natur selbst. Wer kennt schon die häufigsten Pflanzen- und Tierarten? Mehrere Studien hatten gezeigt, dass Schulkinder kaum mehr wissen, was alles um sie herum wächst und piepst.

Es braucht aber auch vermehrt Bemühungen, Biodiversität regelmäßig und langfristig zu erfassen. Nur ein solches Monitoring vermag zeitliche Entwicklungen aufzuzeigen.

Oft führt auch Unwissen zu einem falschen Naturbewusstsein. Der Harz zeigt dies besonders deutlich: Viele Menschen sind entsetzt, wenn sie die riesigen Flächen mit toten Fichten sehen. Auf vielen Quadratkilometern stehen graue und abgestorbene Fichtenbäume. Die trockenen Sommer seit 2018 hatten den Bäumen so stark zugesetzt, dass der Borkenkäfer ein leichtes Spiel hatte, die Fichten zu befallen.

Weniger schlimm, als es aussieht. Die vielen abgestorbenen Fichten im Harz gehen auf trockene Sommer seit 2018 zurück. Nun wächst jedoch ein naturnaher Laubmischwald heran, was aber Zeit braucht. Foto: E. Weber

Diese einst üppigen und grünen Fichtenwälder waren aber, von den höheren Lagen abgesehen, nicht natürlich. Großflächige Fichtenforste wurden angelegt, nachdem man in früherer Zeit die ehemaligen Laubmischwälder abgeholzt hatte. Der Bergbau der Gegend verschlang Unmengen an Holz.

So dramatisch die toten Fichtenwälder aussehen – der Wald ist nicht zerstört. Junge Bäume kommen auf, darunter Laubbäume. Es entsteht langsam ein neuer Wald, der keine Fichtenmonokultur mehr ist, sondern ein artenreicher Mischwald, der viel klimaresistenter als ein Fichtenforst ist. Wer diese Zusammenhänge nicht kennt, wird die dramatischen Ereignisse falsch einschätzen.

Umgekehrt zeigt sich so manches Naturschutzgebiet wie die Garchinger Heide als scheinbar langweiliges Ödland. Doch sind solche Flächen für den Artenschutz von enormer Bedeutung.

Eine wertvolle Fläche. Das Naturschutzgebiet „Garchinger Heide“ sieht nicht spektakulär aus, beherbergt aber zahlreiche seltene Pflanzen- und Tierarten, wie das Frühlings-Adonisröschen (Titelbild dieses Beitrags). Fotos: E. Weber

In unserer Zeit sind Naturschutz und eine Stärkung des Naturbewusstseins die dringlichsten Aufgaben. Denn ohne Natur haben wir keine Zukunft.

Dr. Ewald Weber, Biologe und Sachbuchautor  https://www.autoreweber.de/